Von Cali nach Quito – Grenzerfahrung der traurigen Art

Lange überlegen wir hin und her. Eine weitere Entscheidung die nicht ganz einfach zu fällen ist. Und dennoch bleibt uns fast nichts anderes übrig, als den Weg durch den vermeintlich unsicheren Teil des Landes zu wählen, denn unser nächstes Ziel liegt ein paar hundert Kilometer weiter südlich, ennet der Grenze, in Ecuador. Aber nicht nur die Route ist weitestgehend vorgeschrieben, auch die Zeit drängt. Denn für einmal ist unsere Flexibilität zumindest was die Dauer und Zeit anbelangt ein wenig eingeschränkt, wartet doch ein riesiges Highlight auf uns. Ein Highlight auf welches wir uns schon seit Monaten so richtig freuen und das auf keinen Fall verpasst werden darf. Nach langem hin und her also entscheiden wir uns für die wohl umstrittenste, für uns aber effektivste Variante. Mit dem Nachtbus geht es von Cali aus nach Ipiales, wo wir morgens die Grenze zu Ecuador überqueren möchten, um am selben Tag in der Hauptstadt Ecuadors, in Quito anzukommen. Der Plan steht, soweit so gut. Zusammen mit Frank unserem deutschen Weggefährten machen wir uns schliesslich äusserst optimistisch auf den Weg, denn alle sind wir uns sicher, dass die Reise ohne Zwischenfälle vonstatten gehen wird. Nur kommt es einmal mehr anders als gedacht…

Und wie so oft, ist es auch dieses Mal nicht die so stark umstrittene Reise an die Grenze, die Fahrt durch das von Guerillas durchzogene Gebiet im Südwesten des Landes, dass uns Schwierigkeiten bereitet. Nein, wie so oft hapert es an dem vermeintlich leichtesten Teil der Reise – der Grenze. Bis es aber soweit ist, steht uns eine lange Busfahrt durch den südlichen Teil Kolumbiens bevor. In bequemen zehn Stunden fahren wir gemütlich durch die Nacht. Trotz erneutem Eisschrank finden wir ein wenig Schlaf und kommen zumindest halbwegs ausgeschlafen in Ipiales an. Ipiales die Grenzstadt ganz im Süden von Kolumbien glänzt definitiv nicht durch schickes Aussehen, schöne Architektur oder spannende Geschichte. Vielmehr ist die Stadt vor allem für ein ganz spezielles Bauwerk bekannt. Obschon noch frühmorgens, lassen wir es uns nicht nehmen, noch einen letzten Abstecher in Kolumbiens Hinterland zu unternehmen, bevor wir das uns so ans Herz gewachsene Land definitiv hinter uns lassen.

Erstmal aber ist Frühstück à la Colombia angesagt

Gut gestärkt und zumindest ein wenig aufgewärmt fahren wir mit einem Colectivo ca. 20 Minuten aus dem kleinen Städtchen raus. Ganz versteckt in einem engen Tal nämlich befindet sich die wohl grösste Sehenswürdigkeit der Region, die Wallfahrtskirche Las Lajas. Wir ahnen ja bereits beim heruntersteigen in das Tal, dass uns das Wetter alles andere als wohlgesinnt ist, denn kaum aus dem Colectivo ausgestiegen, regnet es wie aus Kübeln. Die Wolken und der tiefliegende Nebel allerdings verpassen der Kirche indessen eine ganz spezielle mystische Note.

Wallfahrtskirche Las Lajas

Der Regen scheint nicht nachzulassen, im Gegenteil. An einem kleinen Unterstand, an welchem Kaffee, heisse Schokolade, Tee und gekochter Mais angeboten wird, finden wir schliesslich Unterschlupf. Wir wissen, dass uns noch ein langer Weg bevorsteht, möchten wir das Tagesziel auch wirklich heute noch erreichen. Und so machen wir uns trotz sintflutartiger Regenfälle frühzeitig auf den Weg zur Grenze.

Was uns ja bereits während der ganzen Reise durch Kolumbien immer wieder vor Augen geführt wurde, ist die aktuelle Problematik aus dem Nachbarland Venezuela ausgehend. Unzählige Menschen, die aufgrund des Notstandes aus ihrem Heimatland flüchten, sich mit Darbietungen jeglicher Art, mit dem Verkaufen von selbstgemachtem Schmuck und sonstigem über Wasser zu halten versuchen, begegnen uns täglich. Entsprechend mehr Zeit und Aufwand haben wir in unsere Recherche bezüglich Grenzübertritt gesteckt. Und so sehen wir auch kaum an der Grenze angekommen, das aktuell grosse Problem mit welchen die umliegenden Länder zu kämpfen haben. Eine riesige Menschenschlange erstreckt sich vor der Grenze Kolumbiens. Unzählige Venezolaner wollen, genau wie wir, aus Kolumbien ausreisen, um weiter gen Süden zu reisen. Ich rechne bereits damit einige Stunden an der Grenze zu verbringen, doch genau wie unsere Recherche ergeben hat, gilt das lange Anstehen eben nur für die Venezolaner. Für sämtliche „Extranjeros“ und „Colombianos“ gibt es eine separate Schlange und somit eine deutlich schnellere Abwicklung der Grenzformalitäten. Ich würde lügen, würde ich behaupten, ich hätte mich dabei wohlgefühlt an allen vorbeizumarschieren, keine zwei Minuten später den Ausreisestempel im Pass zu haben, um sogleich ohne zeitliche Verzögerung zur gegenüberliegenden Grenze zu marschieren, während hunderte Venezolaner gleich neben uns bereits stundenlang warten.

Bienvenidos Ecuador! Noch ist die Stimmung gut, denn an der Grenze wären wir….eingereist aber noch lange nicht…

Dass wir die Schwierigkeiten, die die Menschen auf der Flucht, auf der Suche nach einem besseren Leben nur kurze Zeit später am eigenen Leib erfahren, ist uns zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bewusst. Wurden wir nämlich kurz zuvor aufgrund unserer Nationalität noch privilegiert behandelt, ist damit nur wenige Minuten später Schluss.

War an der kolumbianischen Grenze noch so ziemlich alles geregelt, so herrscht an der ecuadorianischen Grenze das pure Chaos. Überall wimmelt es von Menschen, der Platz vor der Immigration ist zum Bersten voll.

Menschenmassen vor der Grenze Ecuadors

Wir verstehen erst überhaupt nicht was sich hier abspielt, versuchen uns einen Weg zum Grenzbüro zu bahnen, während wir von netten Menschen allerdings relativ rasch darauf hingewiesen werden, dass ein Grenzübertritt momentan nicht möglich ist. Stromausfall, wird uns von einem Grenzbeamten bestätigt. Wann der Strom wieder da sei, könne er nicht sagen, die Elektriker allerdings arbeiten daran. Angeblich aber rechnen sie um 12:30 Uhr wieder mit Strom, wie uns von einer anderen Seite berichtet wird. Konsterniert kehren wir um, versuchen das ganze in unseren Köpfen zu verarbeiten und suchen uns ein trockenes Plätzchen, denn Regen und Sonne wechseln sich im Minutentakt ab.

„Wir sind bereits seit gestern Morgen hier!“, erzählt uns ein netter junger Mann, der mit seiner Familie aus Venezuela nach Peru reisen will. „Die Nacht haben wir hier auf dem Boden schlafend an der Grenze verbracht“, meint eine Begleiterin erschöpft und zeigt auf ihr gesamtes Hab und Gut. Die Situation in Venezuela sei schon seit Jahren schlimm, mittlerweile sei es aber nicht mehr möglich dort zu leben. Es fehle an allem: Lebensmittel, Wasser, Bargeld etc. Für eine Flasche Wasser müsse mittlerweile beinahe zwei Tage Schlange gestanden werden. Das schlimmste allerdings sei die medizinische Versorgung, die seit Monaten inexistent sei. Medikamente sind Mangelware, die Grundversorgung nicht mehr gegeben. Während die nette Familie ihr hartes Schicksal mit uns teilt, bin ich tief beeindruckt. Beeindruckt von der liebenswerten Art dieser Menschen. Denn nicht nur hadern sie nur wenig mit ihrem Schicksal, auch versuchen sie uns Touristen den schnellstmöglichen Weg über die Grenze zu zeigen, während ihre Tortur wohl noch länger kein Ende haben wird. Denn auch hier gäbe es rein theoretisch eine spezielle „Schlange“ für Ausländer, Ecuadorianer und Kolumbianer.

Ich fühle mich mies. Während Menschen aufgrund einer total kaputten Politik, aufgrund eines selbstverliebten Mannes, ihr Land verlassen, auf dem Weg in ein hoffentlich besseres Leben auf dem Boden schlafen müssen, werden wir, die Touristen priorisiert. Selbstverständlich weiss auch ich, dass wir an der Situation grundsätzlich nichts ändern können, den Kopf und insbesondere das Herz lediglich kurz ausschalten und die Situation ignorieren müssen, so schwer mir das fällt. Und auch wenn wir uns einfach treiben lassen, erst noch geduldig warten, eins verstehen wir absolut überhaupt nicht: Wie kann eine Grenze über zwei Tage keinen Strom haben, ohne Notstromaggregat, ohne möglichst rasche Behebung des Problems? Ein Zustand der für uns, auch in einem Land in Südamerika unverständlich ist. Und so werden wir das ungute Gefühl nicht los, dass das von den Grenzbeamten geschilderte Problem nicht ganz der Wahrheit entspricht. War es gar ein geplanter Schachzug Ecuadors, die Einreisewelle der Flüchtlinge zu stoppen oder zumindest ein wenig einzudämmen? Denn wie kann nach einem bereits zwei Tage andauernden Stromausfalles mit einer derartigen Überzeugung gewusst werden, dass Punkt 12:30 Uhr der Strom wieder fliesst? All das sind selbstverständlich reine Spekulationen, das ungute Gefühl allerdings bleibt.

Und tatsächlich fast pünktlich um 12:30 Uhr ist der Strom wieder da, Aus- und Einreisen können wieder abgewickelt werden. Das Chaos allerdings ist damit alles andere als behoben. Denn Struktur kennen die Ecuadorianer so gut wie gar nicht. Hunderte von Menschen drängeln sich um die kleine Eingangstür der Immigration. Pässe werden den Beamten entgegengestreckt, verzweifelte Rufe sind zu hören, Kinder werden in die Höhe gehoben, es wird gestritten und gedrängelt, während jeder versucht auf sich aufmerksam zu machen. Ein Zustand der Angst macht, denn im Griff scheint hier keiner etwas zu haben. Es dauert schliesslich über acht Stunden bis wir den Einreisestempel im Pass haben. Eine achtstündige Tortur mit Stossen und Drängeln, die uns nicht nur einiges an Nerven kostet, sondern auch nachdenklich macht. Denn noch während wir uns unseren Weg nach Quito bahnen, spät in der Nacht völlig erschöpft ins gemachte warme Bett fallen, sitzen noch hunderte Menschen an genau gleicher Stelle, mit der Hoffnung und dem eisernen Willen, dem erhofften besseren Leben Schritt für Schritt ein wenig näher zu kommen…

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