Wer kennt ihn nicht: Pablo Emilio Escobar Gaviria. Bekannt durch seine Drogengeschäfte in Kolumbien und Jahre später weltberühmt durch die Netflix-Serie „Narcos“. Einiges haben wir über die einst gefährlichste Stadt der Welt und dessen berühmtesten Bewohner gesehen und gelesen, aber nicht nur ihrer Geschichte wegen, freuen wir uns auf den Besuch der zweitgrössten Stadt Kolumbiens. Vielmehr ist Medellin eine Stadt im Wandel, die derart viele Gegensätze bietet, das auch eine Woche ein viel zu kurzer Besuch der wohl spannendsten Stadt Kolumbiens ist.
Es ist noch früher Morgen, als wir noch etwas schlaftrunken aus dem Bus steigen. Eine weitere Nachtbusfahrt hat uns direkt von Bogotà in die zweitgrösste Stadt Kolumbiens gebracht. Wir sind in Medellin, in der ehemals gefährlichsten Stadt der Welt. Noch Anfang der 90er Jahre nämlich hatte Medellin die höchste Mordrate der Welt: mehr als 390 Morde auf 100’000 Einwohner. Auf den ersten Blick allerdings deutet nur wenig darauf hin, hat sich in den letzten 20 Jahren doch einiges getan, vor allem was den Sicherheitsaspekt anbelangt. Heute nämlich ist die Stadt für südamerikanische Verhältnisse relativ sicher. Alleine die Mordrate sank innerhalb von zwei Jahrzehnten um ganze 85%. Ja, tatsächlich strahlt Medellin heute in einem ganz neuen Glanz. Natürlich können wir dies selbst nur schlecht beurteilen, umso mehr sind es aber die Einheimischen hier, die sogenannten Paiser, die uns viel über ihre Stadt erzählen. Ja, offen sind sie, kommunikativ wenn es um ihr Land geht, um die Menschen, um ihre Heldin Shakira, die hier tatsächlich jedes zweite Plakat ziert. Nur bei einem Thema schweigen sie eisern, dann nämlich wenns um den bekanntesten Drogenboss des Landes geht, um den Mann dessen Namen nicht genannt werden darf: Pablo Emilio Escobar Gaviria. Narcos. Medellin-Kartell. Drogen. Morde. Besonders während der Zeit von 1989 bis 1993 war die Stadt geprägt von Drogenschmuggel. Kolumbien und insbesondere Medellin erhielten den Ruf der gefährlichsten Gegend der Welt. Ich gebs ja zu, wir haben sie regelrecht verschlungen, die Netflix-Serie „Narcos“. Eine Serie die insbesondere in den ersten zwei Staffeln das Leben Pablo Escobars aufzeigt – Gangsterromantik à la Hollywood. Lange haben wir uns schwer getan mit der Entscheidung, uns selbst auf die Spuren des bekanntesten Drogenbosses des Landes zu machen. Denn tatsächlich wird Pablo Escobar in der Serie selbst schon fast etwas verherrlichend dargestellt. Ein grausamer und trotzdem auf seine eigene Weise sympathischer Mensch, denkt man, wenn man sich die Serie zu Gemüte führt. Dass dies selbstverständlich in keinster Weise der Wahrheit entspricht, vieles auch falsch dargestellt wird, merken wir an den Reaktionen der Menschen in Medellin. Fast jeder Bewohner Medellins ist aufgrund des Drogenkrieges mit seinem Hauptdarsteller, Pablo Escobar auf irgendeine Weise geprägt, hat gar Opfer im nahen Umfeld zu bekalgen. Es ist ein Konflikt zwischen Erlebtem, tragischen Ereignissen, eines gefährlichen Lebens in ständiger Angst, während Hollywood den Menschen draussen eine ganz andere Seite des Hauptdarstellers zeigt. Vielleicht aber genau deshalb, weil wir mit den Menschen hier über dieses Thema nicht sprechen können, entscheiden wir uns eine Tour zu buchen um den Ereignissen der letzten 20 Jahren auf die Spur zu gehen. Es sind spannende fünf Stunden, in welchen uns Nicolas, unser Guide an die verschiedenen Schauplätze des Lebens Pablo Escobars bringt. Unglaublich informativ erzählt er uns aus den Jahren in denen der Drogenschmuggel die Stadt beherrschte. Emotional und dennoch äusserst neutral erfahren wir grausame, spannende aber auch aufwühlende Details. Und obschon Pablo Escobar wohl der bekannteste Drogenboss überhaupt war, so war dieser nur ein kleiner Fisch in den Kartellen, die die Drogengeschäfte zu dieser Zeit organisierten. So erfahren wir, dass tatsächlich nämlich eine Frau, die wohl skrupelloseste, mächtigste und gleichzeitig grausamste Drogenchefin war in Medellin.
Obwohl Medellin mittlerweile in aller Munde zu sein scheint, besitzt die Stadt nur wenige Sightseeing-Highlights. Im Gegenteil, vielmehr ist es der krasse Wandel, die Stadtentwicklung der letzten 20 Jahre, die Menschen, die die Geschichte des Ortes prägten und die selbstsicheren, stolzen Paiser selbst, welche die Stadt derart interessant machen. Der Wandel selbst ist mit dem Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel wohl am deutlichsten zu sehen. Eine neue Metro bringt die Menschen mittlerweile schnell durch die Stadt. Zu diesem Metronetz gehören auch zwei Seilbahnen, die mehrere nur schwer zugängliche, ärmere Stadtviertel an den Berghängen mit dem Zentrum verbinden. Ein unglaublich wichtiger Schritt, brachten die Seilbahnen die Menschen doch aus deren Isolation. Obschon wir unser Nachtlager im fortschrittlichsten, zugleich sichersten und von Westlern geprägten Stadtteil Poblado aufschlagen, erkunden wir viel lieber die anderen Stadtteile mit ihren verschiedenen Facetten. Dazu gehört ebenso eine Fahrt mit den hier so wichtigen Seilbahnen, die uns einen ersten Überblick über die Stadt verschaffen. Es ist eine weitere moralische Gratwanderung für uns. Während wir in erster Linie das so einzigartige Verkehrsmittel selbst ausprobieren möchten, denn wo sonst gibt es derart viele Seilbahnen die über die Dächer der Stadt gondeln, bleibt dennoch ein fader Beigeschmack. Noch nie war ich Fan von Touren durch Slums oder Favelas wie dies in Südafrika oder Brasilien oft angeboten wird. Elendstourismus der diskriminiert. Entsprechend unwohl fühle ich mich anfangs, als wir die erste Seilbahn betreten, im Westen der Stadt nach „La Aurora“ fahren, während unter uns die fast schon primitiv wirkenden Häuser unter uns vorbeiziehen.

Teleferico über Medellin
Tatsächlich kann man den Menschen schon fast in ihre Häuser blicken. Privatsphäre, insbesondere für die in der Nähe der Seilbahn wohnenden Familien ist kaum vorhanden. Und dennoch sitze ich in der Seilbahn, unterhalte mich mit Einheimischen und merke relativ rasch wieviel Nutzen die Leute aus diesem neuen Transportmittel ziehen.
Selbstverständlich fahren wir nicht der ärmeren Stadtviertel wegen die Hügel hoch, vielmehr ist es der Ausblick der letztendlich entzückt. Wie bereits in Bogotà staunen wir über die immense Grösse der Stadt. Bis weit oben in den Hügeln wird gelebt, Häuser soweit das Auge reicht.

Blick von La Aurora
Eine Stadt ist immer nur so schön, wie deren Bewohner. Und tatsächlich sind es unter anderem auch die Paiser selbst, die uns staunend zurücklassen. Stolz und optimistisch, offen und neugierig wirken die in Medellin lebenden Menschen. So auch Laura Loaiza. Geboren und aufgewachsen in der Comuna 13, im wohl gefährlichsten Viertel in ganz Medellin. Viel hat sie durchgemacht, in ständiger Angst gelebt, Familienmitglieder aufgrund Mafia und Drogen verloren, Bandenkriege hautnah miterlebt und dennoch ist sie stolz auf das Viertel weit im Westen der Stadt. Stolz auf ihre Comuna, auf die Menschen die dort leben und vor allem auf den Wandel der letzten Jahre. So stolz gar, dass sie ihr Zuhause mit grossem Enthusiasmus interessierten Touristen näher bringen will.

Comuna 13
Lange nämlich galt die Comuna 13 als ein absolutes No-Go. Zu gefährlich war das Viertel noch vor wenigen Jahren, als hier zwischen der Polizei, Gruppierungen der lokalen Bevölkerung, Guerillas und Angehöriger der Drogenbanden regelmässig Kugeln flogen. Insbesondere das Medellin-Kartell war mitverantwortlich für die Gewalt in diesem Teil der Stadt. Blutiger Höhepunkt schliesslich erreichte die Comuna 13 im Oktober 2002, als der damals neue Präsident beschloss dem gewaltsamen Treiben ein Ende zu setzen. Mit Hubschraubern und gepanzerten Fahrzeugen liess dieser damals die Comuna militärisch angreifen. Die Soldaten schossen auf alles, auf Alte, auf Frauen und Kinder. Paramilitärische Gruppen kämpften, schossen, töteten, ohne sich an Recht und Gesetz gebunden zu fühlen. Operación Orión, die wohl brutalste Militäraktion in der Geschichte Medellins. Emotional sind die Erzählungen von Laura, die das alles selber miterleben musste. Erzählungen von den Kämpfen, die ganze vier Tage lang anhielten. Keiner traute sich aus dem Haus. Mit weissen Bettlaken und Tüchern baten die Anwohner schliesslich um eine Feuerpause – vergeblich. Zahlreiche Menschen verloren ihr Leben, wurden gar gezielt ermordet. Hunderte sind seither spurlos verschwunden. Mit Betroffenheit zeigt Laura auf die andere Seite, auf eine Bauschuttdeponie, wo noch heute zahlreiche Leichen vermutet werden. Gefallene Zivilisten, die einfach so verscharrt wurden.
Wahrhaftig hat Medellin, aber insbesondere die Comuna 13, wo sich das grösste Elend abzuspielen schien, so einiges durchlebt. Und obwohl Laura in ihrem Viertel derart viel erlebt hat, sind wir beeindruckt von ihrem Stolz und Optimismus. „Die Menschen hier halten zusammen. Man kennt sich. Und auch wenn erst letzte Woche wieder 12 Menschen hier gestorben sind, so spüren wir einen Wandel. Die Comuna 13 ist ein wunderschönes Viertel mit so wunderbaren Menschen und ich bin derart stolz euch dies hier zeigen zu dürfen“, erklärt uns Laura immer wieder. Die Gewalt ist noch lange nicht vorüber. Die Comuna 13 allerdings putzt sich heraus. Zahlreiche Graffitis zieren die Wände der Häuser, allesamt erzählen sie beeindruckende und vor allem bewegende Geschichten. Vom friedlichen Protest der Bewohner gegen die dominierende Gewalt bis hin zu Kunstwerken, die den zahlreichen minderjährigen Opfern gewidmet sind. Auf ihren bunten Wänden ist sie verewigt, die bewegende Geschichte der Comuna 13.
Auch verleihen die jungen Menschen hier in der Comuna auf verschiedenste Weise ihrer Lebensfreude Ausdruck. An jeder Ecke findet man die unterschiedlichsten künstlerischen Darbietungen.
Sind es in anderen Vierteln die Seilbahnen, die das Leben der Menschen hier oben um ein Vielfaches vereinfacht haben, sind es in der Comuna 13 Rolltreppen. Blitzsauber und gut bewacht sind sie mittlerweile ein Wahrzeichen des Barrios. Nicht nur zählt die Comuna 13 zu den steilsten Stadtteilen Medellins, auch handelt es sich gleichzeitig um das dichtbesiedelste Viertel der Stadt. Als bei einer Volkszählung schliesslich herauskam, dass in der Comuna 13 auch noch die meisten alten Menschen leben, wurde das Bauprojekt der Rolltreppen schliesslich an diesen Stadtteil vergeben. Dass dies ein wahrer Entwicklungsschub für das Viertel bedeutete, sieht man heute an der wachsenden Sicherheit und dem zunehmenden Tourismus.

Rolltreppen in der Comuna 13
Ja, der Tourismus boomt in der Comuna 13. Vordergründig ist es die Kunstszene, mit den lokalen Künstlern, den Graffitis und sonstigen Darbietungen, die die Touristen anlocken. Und dennoch ist auch hier der Grat zwischen moralisch verwerflichem Elendstourismus und unterstützenswertem Wandel ziemlich schmal. Auch wir haben uns die Frage nach der moralischen Vertretbarkeit diverse Male gestellt. Letzten Endes war es Laura selbst, die uns schliesslich aber davon überzeugte, dass die Menschen der Comuna davon grösstenteils profitieren.
Von Anfang an waren wir gefesselt von den krassen Gegensätzen der Stadt. Moderne trifft auf Armut, Freude auf Leid, Illusion auf Realität und Verzweiflung auf Hoffnung. Und auch wenn die Gegensätze in keiner bisher besuchten Stadt derart ausgeprägt und vor allem derart offensichtlich erschienen wie hier in Medellin, so ist es die Veränderung, der Wandel der Stadt, die Freude bereitet. Medellin, die einst gefährlichste Stadt der Welt hält einiges an Schätzen bereit. Schätze wie die liebenswerten Bewohner Medellins. Ein Volk geprägt von furchtbaren Bürgerkriegen, die allerdings nie ihr Lachen, ihre liebenswerte Art und vorallem nie ihren Optimismus verlieren.