Leon, zur falschen Zeit am falschen Ort – ein Land im Ausnahmezustand

Unser Plan El Salvador nur als Transitland zu nutzen, haben wir mit zwei Ausnahmen fast gänzlich umgesetzt. Denn von Santa Ana aus, wo wir noch einige entspannte Tage geniessen, geht es weiter, einmal quer durchs Land, weiter durch Honduras bis nach Nicaragua. Wir freuen uns auf der einen Seite auf Nicaragua, wurde uns dieses Land doch von allen Seiten wärmstens empfohlen, auf der anderen Seite sind wir nach unserer erstaunlich schönen Zeit in El Salvador aber auch etwas unsicher bezüglich unserem Entscheid. In weniger als drei Stunden lassen wir den gesamten Westen hinter uns, steigen in San Salvador um, wo wir von netten Menschen, ohne gefragt zu haben, an den Busbahnhof begleitet werden und landen schliesslich abends ganz im Osten des Landes in San Miguel. Von hier aus starten wir einen Tag später den grössten und anstrengendsten Teil der Reise, der uns nach Nicaragua bringen soll. Noch freuen wir uns auf das neue Land, sind gespannt ob das bisher Gehörte auch wirklich der Realität entspricht, denn fast immer wurde in höchstem Masse von Nicaragua geschwärmt. Was uns dort allerdings erwartet, konnten wir uns nicht im entferntesten vorstellen…! Einmal mehr aber alles der Reihe nach…..


Und wieder starten frühmorgens, wissen wir doch, das uns eine weitere lange Reise bevorsteht. Leon, ganz im Westen Nicaraguas ist unser Ziel. 300 Kilometer mit zwei Grenzübertritten liegen vor uns. Nicht nur gilt es die Distanz hinter uns zu bringen auch müssen wir ein ganzes Land durchqueren. Denn obwohl Honduras unglaublich spannend zu bereisen wäre, haben wir uns aufgrund der verbleibenden Zeit gegen einen Besuch des Landes entschieden. Glücklicherweise läuft, wie so oft in Zentralamerika, von Beginn an alles wie am Schnürchen. Wir kommen gut voran, finden den passenden Bus und stehen nach knapp einer Stunde an der Grenze zu Honduras. Auch der Grenzübertritt gestaltet sich einmal mehr einfach und schnell.

Auf dem Weg nach Honduras

130 Km führt uns der Weg schliesslich durch den schmalen Zipfel Honduras an der pazifischen Küste entlang. Obwohl auch Busse fahren, entscheiden wir uns für ein direktes und damit ein bisschen schnelleres Colectivo. Und trotzdem dauert es bis wir endlich abfahren, denn wie bei Colectivos so üblich, fahren diese erst ab, wenn auch der hinterste und letzte Platz besetzt ist. Erneut stehen wir etwas unter Zeitdruck, gilt es doch den Bus von der Grenze Nicaraguas nach Leon zu erreichen. Über lange, schnurgerade Strassen mit nur wenig Verkehr tuckern wir schliesslich durchs Land. Folkloristische Musik ertönt vom Mann neben Dominique, der stolz sein mitgebrachtes portables Radio präsentiert. Hinter uns sitzt eine Familie zusammengepfercht auf einer Bank, mittendrin eine Frau im schicken Deux Piece, der die Anwesenheit der neben ihr sitzenden Männer so gar nicht zu gefallen scheint und vorne sind die älteren Männer in angeregten Gesprächen vertieft. Wir, die zwei einzigen Touristen finden Gefallen und auch wenn unser Spanisch tatsächlich noch gehörige Mängel aufweist, fühlen wir uns fast wie auf einer Klassenfahrt, amüsant und unterhaltsam.

Colectivo durch Honduras

Tatsächlich können wir uns in keinster Weise beklagen wie sich der bisherige Tag gestaltet. Wie geplant, erwischen wir den Bus an der nicaraguanischen Grenze, steigen in Chinandega in den letzten Bus, mit welchem wir die letzte Etappe des heutigen Tages hinter uns bringen. Es ist früher Abend als wir Leon erreichen. Ein schöner, sonniger Tag neigt sich dem Ende zu und wir sind froh und erleichtert endlich in Leon angekommen zu sein. Es könnte tatsächlich perfekter gar nicht sein…bis dahin zumindest… Obschon der Bus an einem etwas speziellen Ort direkt neben einem Markt am Stadtrand hält, der Busfahrer auf unser Nachfragen nur bestätigt, dass dies die Endhaltestelle sei, nehmen wir die letzten zwei Kilometer ohne dies weiter zu hinterfragen unter die Füsse. Wir marschieren vorbei an Marktständen, Fahrradtaxen, Gemüse- und Früchteverkäufern und werden von netten Menschen am Strassenrand gegrüsst. Das normale alltägliche Leben scheint seinen gewohnten Gang zu gehen. Und trotzdem scheint irgendetwas Spezielles in der Luft zu liegen. Können wir es anfangs noch nicht wirklich einordnen, merken wir spätestens ab dem Zeitpunkt als ein Taxi bereits mit zwei anderen Passagieren belegt, neben uns hält und der Fahrer uns fast inständig bittet einzusteigen. Aufgeregt versucht dieser uns die Situation zu erklären. Verstehen kann ich ausser „Feuer, gewalttätige Proteste, Regierung und Studenten“ nicht wirklich viel. Immernoch fehlt mir der Zusammenhang, trotzdem vertrauen wir auf unser Bauchgefühl und lassen uns vom Taxifahrer in die Unterkunft bringen. „Ich kann euch leider nicht bis an die Tür bringen, die Strassen sind gesperrt“, meint dieser nach etlichen Versuchen Schleichwege durch die Strassen Leons zu finden. Es dauert tatsächlich ein Weilchen bis auch wir begreifen, was in der Stadt los ist. Der Gestank von brennenden Pneus liegt in der Luft, Rufe, Barrikaden, Knallgeräusche und brennende Blockaden begrüssen uns, kaum haben wir das Taxi verlassen. Obwohl alles geschlossen zu sein scheint, finden sich Ansammlungen von neugierigen Menschen auf der Strasse. Bis anhin ist wohl noch keinem bewusst, wie ernst die Sache tatsächlich ist. Auch wir begeben uns nur kurz darauf vom Hostel aus wieder auf die Strasse auf die Suche nach einem Comedor, denn der Magen knurrt. Verbarrikadierte Türen, geschlossene Läden und eine unheimliche Anspannung liegt in der Luft. Wie uns geraten wurde, halten wir uns vom Zentrum entfernt, versuchen vielmehr in den Nebengassen etwas essbares zu finden. Vergeblich. „Verschwindet von hier, da vorne werden Bomben geworfen“, ruft uns plötzlich ein Mann mit weit aufgerissenen Augen zu. Mit einem mulmigen Gefühl kehren wir um, als es plötzlich dunkel wird. Wir spüren die Bedrohung instinktiv, fühlen uns verloren und hilflos inmitten der stockfinsteren Stadt. Die Geräusche der Explosionen scheinen immer näher zu kommen und tatsächlich bricht von einer Sekunde auf die andere Panik unter den Menschen aus. Alle beginnen sie aufgrund der intensiven Angst zu rennen, kommen uns entgegen und rufen uns laut zu: „Rennt, rennt!“. Die unerwartete und erschreckende Situation löst auch in uns eine Angst aus. Wir rennen un versuchen schliesslich durch Nebengassen von der Hauptstrasse zu fliehen. Eine eigenartige Unruhe liegt in der Luft. Ausser Atem mit den Nerven am Ende erreichen wir schliesslich unser Hostel, verbarrikadieren das Tor und lauschen verängstigt dem Geschehen auf der Strasse. Es ist ein eigenartiger Abend. Von überall hören wir explodierende Knallkörper und selbst gebastelte „Bomben“. Angespannt harren wir aus, im Kerzenlicht ohne Strom sitzend, die letzten verbliebenen Cracker essend, fühlen wir uns das erste Mal klein und hilflos.

Es ist schliesslich die Herbergsmutter die uns letzten Endes vollends über die Situation aufklärt. Nur kurz möchte ich ebenfalls darauf eingehen, denn nicht ganz unwichtig wird das Geschehene wohl für die weitere Entwicklung des ärmsten Landes Zentralamerikas sein:

Bereits eine Woche zuvor begann das kleine Feuer, der Widerstand der Menschen gegen die Regierung zu lodern, als ein massiver Waldbrand das südwestlich gelegene Naturschutzgebiet von Indio Maiz verwüstete. Die Regierung, angeführt von Präsident Daniel Ortega schien so gut wie nichts zu unternehmen, um den Schaden in dem Teil des Landes, das bekanntlich gegen die aktuelle Regierung ist, zu verhindern. Gar wurde die Unterstützung aus dem Nachbarland Costa Rica abgelehnt. Erstmals war die Öffentlichkeit erbost. Keine Woche später schliesslich fällt Präsident Daniel Ortega einen fatalen Entscheid. Die Regierung unterzeichnete eine Rentenreform, um das bereits bankrotte Gesundheitssystem zu retten. Nicht nur müssen die arbeitenden Menschen mehr dafür bezahlen, auch erhalten Rentner weniger Geld. All das wurde ohne Debatte, ohne Anhörung des Volkes, einzig und allein vom Präsidenten selber unterzeichnet. Ein Mann der seine eigene Reform ins Gesetzt einträgt. Obschon wohl dieser Entscheid der ausschlaggebende Punkt für die Aufstände des Volkes, insbesondere der Studenten war, ist es wohl schlicht der letzte Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte resp. das Feuer entzündete. Denn nach Jahren der Enttäuschung über Korruption, persönliche Gier und Misswirtschaft der Regierung war der Siedepunkt damit erreicht. Am 18. April schliesslich lehnte sich eine Gruppe von Studenten vor der führenden Universität des Landes dagegen auf, protestierten mit Transparenten und Liedern gegen eben diese Reform. Der Protest war friedlich, doch schon bald umringten Anhänger der Regierung (Mitglieder der sandinistischen Partei) die Protestierenden. Mit Messer und Baseballschlägern bewaffnet, begannen diese schliesslich aggressiv gegen die Studenten vorzugehen. Steine wurden geworfen, die Universität zerstört. Studenten wurden verletzt, mussten sich gar im Campus verbarrikadieren. Ab diesem Moment befand sich das Land schliesslich in einem blutigen Konflikt, das bis zum heutigen Zeitpunkt mindestens 76 Menschenleben gefordert hat.

Eine traurige Geschichte, die noch lange nicht zu Ende ist, denn nach wie vor beherrschen gewaltsame Konflikte das Land. Dialoge zwischen Regierung und Volk sind erfolglos, die Wut der Bürger allerdings nimmt stetig zu.

Obwohl wir drei Tage im Hostel wie gefangen sind, uns geraten wird, wenn möglich die Strassen nicht zu betreten, siegt unsere Neugier über das Geschehene dann doch und so wird uns spätestens beim Anblick der Verwüstung der Stadt bewusst, was sich aktuell in diesem Land abspielt. Die gesamte Innenstadt ist zerstört. Fenster wurden eingeschlagen, Pflastersteine wurden aus dem Boden gerissen und der zentrale Markt sowie Motorräder und Fahrzeuge wurden vollends abgebrannt. Ein trauriges Bild, nach der ersten blutigen Nacht der Proteste.

Die Situation hat Kriegscharakter. Einheimische verlassen aus Angst die Stadt. Die kleinen Läden, die Existenz der Menschen hier steht auf dem Spiel. Aus Angst vor Zerstörung und Plünderungen werden ganze Geschäfte ausgeräumt um die Ware mit Pickups aus der Stadt zu bringen. Die Angst der Menschen ist unverkennbar. Shops, Banken, Restaurants, alles ist geschlossen, gar mit Bretter verbarrikadiert. Ausser Polizisten findet man vor allem nachmittags keine Menschenseele mehr auf der Strasse. Auch wir verziehen uns spätestens ab dem Mittag wieder in unser Hostel, denn jeden Tag aufs Neue beginnen neue mehrheitlich friedliche Proteste, die durch das Eingreifen von Anhängern der Regierung und der Polizei schnell in gewaltsamen Strassenschlachten enden. Alleine an diesem einen Wochenende müssen im ganzen Land 32 Menschen ihr Leben lassen.

Tatsächlich kommen auch wir an unsere Grenzen. Nicht nur werden wir, wie natürlich viele Einheimische unserer Freiheit beraubt, auch erleben wir das erste Mal wie wichtig das normal funktionierende alltägliche Leben in einer Stadt ist. Lebensmittelläden sind geschlossen, Essenskauf kaum möglich. Überall versuchen Menschen in den kleinen Geschäften durch verschlossene Gitter den Nahrungsmittelvorrat aufzufüllen. Eine Ausnahmesituation die nicht nur der gewalttätigen Proteste wegen Angst macht.

Es dauert schliesslich mehr als drei Tage bis sich die Situation zumindest morgens wieder etwas zu beruhigen scheint. Noch immer hören wir lautes Knallen die ganze Nacht hindurch, dennoch trauen sich die Menschen tagsüber wieder auf die Strassen. Geschäfte öffnen vermehrt, das Leben scheint wieder seinen halbwegs gewohnten Gang zu gehen. Und trotzdem sind wir von Normalität weit entfernt wie wir nur einen Tag später merken. Eine friedliche Demonstration auf dem Dorfplatz Leons, Menschen von jung bis alt, Familien mit Kindern zünden Kerzen an für die getöteten Studenten, singen, demonstrieren und Gedenken derer die ihr Leben lassen mussten, als plötzlich eine Kleinigkeit zu einer erneuten Panik führt. „Policia, Policia!“, höre ich ein paar Jungs am Rande des Platzes rufen. Alle rennen sie, aus Angst vor der Regierung, aus Angst vor der Polizei. Nur die Kerzen flackern weiter in der Dunkelheit der Nacht….

„Sie waren keine Kriminelle, sie waren Studenten!!!“

Wir sind traurig, wütend aber auch erschöpft. Die Situation im Land ist alles andere als einfach. Wir ringen mit Fassungslosigkeit, Wut, Trauer und Mitgefühl für die Menschen hier. Und trotzdem möchten wir aus Sicherheitsgründen eigentlich so schnell wie möglich weg von hier, raus aus der Stadt, doch wir sitzen fest. Es dauert schliesslich ganze vier Tage bis es uns gelingt die Stadt zu verlassen. Mit dem Bus fahren wir an die nur 30 Minuten entfernte Küste. Im kleinen Örtchen Las Peñitas verbringen wir die nächsten Tage, fernab von Gewalt und Protesten, denn glücklicherweise scheint hier noch die heile Welt zu herrschen.

Las Peñitas

Auch wenn wir uns in Sicherheit wiegen, ist die Situation nach wie vor alles andere als einfach. Zum einen können wir das Leben am Strand gar nicht so richtig geniessen, zu präsent sind die Erinnerungen an die letzten Tage, zum anderen hinterfragen wir die weitere Reise durch Nicaragua von Tag zu Tag mehr. Will man durch Nicaragua reisen, führt kein Weg an Managua, der Hauptstadt des Landes vorbei. Dort wo sich die grössten Proteste, die heftigsten Kämpfe mit den meisten Todesfällen abspielen, dort müssen wir hin, komme was wolle. Wir wissen, Touristen sind nicht das Ziel dieser Proteste, im Gegenteil, ist das wohl ärmste Land Mittelamerikas genau auf die Einnahmen der Touristen angewiesen. Und dennoch wurde uns auf eindrückliche Art und Weise gezeigt, wie schnell man eben zur falschen Zeit am falschen Ort sein kann. Wir wissen nicht weiter. Diskutieren, überlegen, entscheiden. Es ist kaum vorstellbar, welch Leid die Menschen in Nicaragua durchleben müssen, wie hart um Rechte gekämpft werden muss. Denn einmal mehr merken wir wie privilegiert wir in einem Land wie der Schweiz sind. In einem Land wo unsere Meinung noch angehört wird, in einem Land wo wir Veränderungen erreichen können, ohne Gewalt, ohne Verletzungen oder gar den Tod in Kauf nehmen zu müssen…

Ein Gedanke zu “Leon, zur falschen Zeit am falschen Ort – ein Land im Ausnahmezustand

  1. Hallo ihr Zwei. Wir hoffen es geht euch gut und ihr habt alle Proteste und Wirren unbeschadet überstanden?! Wir wünschen Dominique noch alles gute zum Geburtstag! Uns geht es gut wenn es Julia gut geht 😇 Liebi Grüessli Sabine, Manfred und Julia

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